Es ist der 10. Dezember 2009: Wie fast jeden Tag ist Heinz Schäfer aus Seltisberg bei Liestal BL auf einer Baustelle unterwegs. Als der selbständige Bauleiter einen kleinen Erdwall hinuntergeht, rutscht er aus.
Eigentlich eine Bagatelle: Er fällt nicht einmal hin, kann sich auffangen. Aber in der rechten Hüfte spürt er ein Knacken – dort, wo er seit sieben Jahren ein künstliches Hüftgelenk trägt. Dann durchfährt ihn ein gewaltiger Schmerz.
Später sieht der Arzt auf dem Röntgenbild: Die künstliche Gelenkpfanne aus Keramik ist zersplittert. Für Heinz Schäfer ein Schock – doch solche Fälle sind nicht selten. Jahr für Jahr müssen gut 2000 Patienten unters Messer, weil ihr künstliches Hüftgelenk versagt.
Den Grund sehen viele Experten bei den Herstellern dieser Gelenke: Sie bringen immer wieder neue Modelle auf den Markt. Diese versprechen Fortschritt, sind aber oft nicht ausgereift. So wie Heinz Schäfers Keramik-Modell.
Die Ärzte des Baselbieter Bruderholzspitals setzten es ihm im Rahmen einer Studie ein. Heute weiss man: Dieses Keramikgelenk weist häufig Materialfehler auf. Laut Niklaus Friederich, Chefarzt Orthopädie am Bruderholzspital, hat es sich nicht bewährt: «Es verursachte zu viele Probleme.»
Eine amerikanische Studie mit demselben Modell mussten die Hersteller sogar frühzeitig abbrechen, weil bei jedem zwanzigsten Patienten die Gelenkpfanne brach. Heute verwenden Ärzte das Produkt nicht mehr.
Laut Friederich ein typischer Vorgang: «Wenn sich die Probleme häufen, verschwindet es klammheimlich vom Markt.» Zurück bleiben geschädigte Patienten wie Heinz Schäfer.
Gelenkbruch: Jetzt geht der Patient an Krücken
Der Bruch des Gelenks hatte für Schäfer schlimme Folgen: In einer aufwendigen Operation mussten die Ärzte das einzementierte Gelenk wieder aus dem Knochen fräsen und ein neues Kunstgelenk einsetzen.
Nach der Operation wuchs zudem ein Muskel im Oberschenkel nicht mehr richtig zusammen, eine dritte Operation war nötig. Heute, eineinhalb Jahre nach dem fatalen Ausrutscher, geht Heinz Schäfer noch immer an Krücken und kann seinen Beruf nicht ausüben:
«Ich müsste auf der Baustelle die Handwerker kontrollieren. Mit den Krücken ist das nicht möglich.» Zum gesundheitlichen Schaden kommt deshalb ein finanzieller: Zwar schloss Schäfer eine Taggeld-Versicherung ab, als er sich selbständig machte.
Doch da hatte er bereits das künstliche Hüftgelenk. Die Versicherung machte einen Vorbehalt – und zahlt jetzt nichts. «Manchmal kann ich einige Büro-arbeiten erledigen und mich so über Wasser halten», sagt der heute 64-Jährige. «Aber insgesamt sind mir Aufträge von fast 100 000 Franken entgangen.»
Aus den fehleranfälligen Keramikgelenken hat Chefarzt Friederich Lehren gezogen. Heute verwendet er ein Modell, das seit 20 Jahren auf dem Markt ist. «Es hat sich bewährt», sagt er. «Wir haben gelernt, dass das neueste Modell nicht immer das beste ist.»
Dem pflichtet auch Peter Ochsner bei. Der Orthopäde aus Frenkendorf BL hat sich darauf spezialisiert, fehlerhafte Gelenke auszuwechseln. Ob ein neues Modell wirklich so gut sei wie vom Hersteller versprochen, könne man erst nach 20 Jahren definitiv sagen, so Ochsner.
«Die Erfahrung zeigt jedenfalls: Die Geschichte der Hüftprothesen ist von zahlreichen Irrtümern begleitet.» Das zeigt auch die Statistik der Schweizer Aufsichtsbehörde Swissmedic. Demnach mussten Hersteller in den letzten sieben Jahren bei fünf Hüftgelenk-Typen Bestandteile oder einzelne Chargen zurückrufen.
93 000 Hüftgelenke zurückgerufen
Ein solcher Rückruf erschüttert seit letztem Herbst den amerikanischen Megakonzern Johnson & Johnson. Sein Tochterunternehmen DePuy rief 93 000 Hüftgelenke zurück. Laut der Zeitung «Der Bund» haben in den USA seither Hunderte von Patienten auf Schadenersatz geklagt.
Die Gelenke vom Typ ASR sind aus Metall und verursachen gleich doppelt Probleme: Zum einen lockern sich unerwartet viele vom Knochen, sodass eine zweite Operation nötig wird. Zum anderen gelangen kleinste Metallteilchen ins benachbarte Gewebe.
Viele Patienten haben deshalb erhöhte Chrom- und Kobaltwerte im Blut. «Auf lange Sicht ist das giftig für die Nieren», sagt Niklaus Friederich. Schlimmer noch: Bei einigen Patienten löst dieser Metallabrieb eine Art allergische Reaktion aus.
Die Folge ist eine Entzündung, die den Knochen angreift. Oft muss dann der Arzt das Gelenk austauschen. Die jüngsten Zahlen sind alarmierend: Nach sechs Jahren hatte bereits knapp die Hälfte der Gelenke versagt.
Das berichtete kürzlich eine britische Forschergruppe. Orthopäde Peter Ochsner befürchtet: «In den nächsten Jahren werden wir einer steigenden Zahl von Patienten vorzeitig diese künstlichen Hüftgelenke ersetzen müssen.»
Metallabrieb des Gelenks verursachte Schmerzen
Johnson & Johnson schreibt dazu, die neuen britischen Erhebungen stünden «nicht im Einklang mit vorher gemeldeten Daten». Sie stammten aus nur vier orthopädischen Zentren und könnten «nicht als repräsentativ betrachtet werden».
Was erhöhte Chrom- und Kobaltwerte im Blut angeht, be-ruft sich das Unternehmen auf die amerikanische Zulassungsbehörde FDA. Demnach sei zurzeit nicht bekannt, wie häufig solche Nebenwirkungen aufträten. «Man glaubt aber, dass sie selten sind», so Johnson & Johnson.
In der Schweiz haben rund 1400 Patienten das ASR-Gelenk bekommen. Auch Martin Bischof (Name geändert) gehört dazu. «Vor der Operation sagte mir der Arzt, ich könne nach zwei, drei Monaten wieder voll arbeiten», erinnert sich Bischof.
Doch es kam anders: Noch ein halbes Jahr später hatte er massive Schmerzen. Selbst intensive Physiotherapie half nichts: «Es wurde nicht besser, eher schlechter.» Das machte Bischof zusehends seelisch zu schaffen.
Es sei «extrem hart» gewesen, dauernd zu Hause zu sitzen und nichts tun zu dürfen. Zudem fragte er sich immer, was wohl die Arbeitskollegen über ihn dachten. «Ich hatte grosse Angst, als ‹fuule Siech› dazustehen.»
Er befürchtete, seine Stelle zu verlieren. Nicht ohne Grund: Kurz zuvor war ein Kollege entlassen worden, weil er oft krank gewesen war. Schliesslich stellte sich heraus: Bischofs Körper vertrug den Metallabrieb des Kunstgelenks nicht.
Die Ärzte wechselten es aus. Danach ging es rasch aufwärts. Heute arbeitet Martin Bischof wieder an seiner bisherigen Stelle in einem Industriebetrieb.
Hersteller will Patienten entschädigen
Zusammen mit einem Anwalt fordert Bischof jetzt Schadenersatz von Johnson & Johnson. Das wäre nichts als gerecht, sagt er: «Warum hat man das Gelenk nicht besser überprüft, bevor man es so vielen Menschen eingesetzt hat?
Auch bei uns im Betrieb muss alles stimmen, bevor etwas in den Verkauf geht. Sonst gibt es ein Riesentheater.»
Johnson & Johnson teilte dem Gesundheitstipp mit, man wolle den betroffenen Patienten «die üblicherweise anfallenden Kosten in angemessener Höhe erstatten». Dies gelte insbesondere für Nach-operationen «sowie Verdienst- ausfälle».
Tipps: Künstliches Gelenk Vor der Operation nachfragen
Über 30 000 Menschen bekommen jedes Jahr ein künstliches Gelenk – Tendenz steigend. Ursache ist meist Arthrose. Darauf sollten Sie achten, bevor Sie einer Operation zustimmen:
- Fragen Sie den Arzt, welche Erfahrung man mit diesem Modell gemacht hat.
- Fragen Sie bei einem Metallgelenk, ob es Nickel enthält. Viele Menschen reagieren allergisch auf Nickel.
- Holen Sie vor der Operation eine Zweitmeinung ein.
- Sagen Sie es dem Arzt, wenn Sie Beschwerden mit einem Kunstgelenk haben.
- Wenn der Arzt nicht auf Sie eingeht: Wechseln Sie den Arzt.
- Bei Haftpflichtfragen: Verlangen Sie eine Kopie Ihrer Krankengeschichte.
Holen Sie sich Unterstützung:
- SPO Patientenschutz, Tel. 0900 567 047 (Fr. 2.13/Min.
- Dachverband Schweizerische Patientenstellen, Tel. 0900 104 123 (Fr. 2.–/Min.)
- Beide Organisationen vermitteln spezialisierte Anwälte.