Ein schlechtes Arbeitszeugnis für die IV
Die IV soll 17 000 Rentner zurück in den Job bringen, von denen die meisten an psychischen Krankheiten leiden. Doch die Behörde ist dafür nicht gerüstet. Das zeigt eine neue Studie.
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saldo 10/2011
22.05.2011
Letzte Aktualisierung:
24.05.2011
Eric Breitinger
Die Invalidenversicherung (IV) unternimmt zu wenig, um psychisch kranke Arbeitnehmer im Job zu halten. Obwohl sie seit Inkrafttreten der 5. IV-Revision Anfang 2008 exakt das tun sollte: möglichst frühzeitig eingreifen, um so neue Rentenfälle zu verhindern.
Diesen Schluss legt eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen finanzierte Studie nahe. Die Autoren befragten von April bis Juli 2010 über tausend Personalverantwortliche in den Kantonen Basel-Stad...
Die Invalidenversicherung (IV) unternimmt zu wenig, um psychisch kranke Arbeitnehmer im Job zu halten. Obwohl sie seit Inkrafttreten der 5. IV-Revision Anfang 2008 exakt das tun sollte: möglichst frühzeitig eingreifen, um so neue Rentenfälle zu verhindern.
Diesen Schluss legt eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen finanzierte Studie nahe. Die Autoren befragten von April bis Juli 2010 über tausend Personalverantwortliche in den Kantonen Basel-Stadt und Baselland zu ihrem Umgang mit «schwierigen» Mitarbeitern, die aus psychischen Gründen ein hohes Risiko haben, den Job zu verlieren.
Im ersten Teil der Befragung schilderten die Chefs ihre Erfahrungen. Im zweiten Teil testeten sie in simulierten Situationen ihren Umgang mit Mitarbeitern, die an psychischen Störungen leiden. Diese treten laut der Studie häufiger auf, als der Laie erwartet.
So schätzen die Chefs, dass 25 Prozent ihrer Mitarbeiter ein psychisches Problem haben, das ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. In Betrieben mit bis zu 10 Mitarbeitern liegt der Anteil laut der Studie sogar bei 50 Prozent. Der Grund: Hier kennen sich die Mitarbeiter besser.
Die Zahlen erstaunen Studienleiter Niklas Baer von den Kantonalen Psychiatrischen Diensten Baselland nicht: «In dieser Grössenordnung sind psychische Probleme überall in der Bevölkerung vorhanden.»
Die «Lösung» für die Chefs besteht meist in einer Kündigung
Die Studie zeigt, dass die meisten Vorgesetzten mit den psychischen Problemen ihrer «schwierigen» Mitarbeiter «überfordert» sind. In 80 Prozent der Fälle kam es zu Konflikten am Arbeitsplatz, etwa weil der entsprechende Kollege eigene Fehler abstritt oder anderen die Schuld zuschob.
In zwei Dritteln der Fälle litt seine Arbeitsleistung. Die Chefs zeigten zwar Geduld mit solchen Mitarbeitern und bemühten sich im Schnitt knapp drei Jahre lang um eine Lösung. In neun von zehn Fällen besteht die «Lösung» laut der Studie jedoch in der Kündigung des Mitarbeiters.
Die meisten Chefs intervenieren aber schon vorher, nur oft nicht angemessen: Jeder zweite Vorgesetzte appellierte an das Pflichtgefühl des Mitarbeitenden oder ermahnte diesen zu Leistungsbereitschaft. Jeder vierte Chef wartete erst mal ab, jeder siebte verfiel in Aktionismus.
Die Studie kommt zum Schluss, dass Vorgesetzte selten auf die spezifischen Bedürfnisse der psychisch Belasteten eingehen. Und: Nur gerade 14 Prozent der Chefs schalteten die IV ein.
Das liegt vor allem daran, dass drei Viertel der befragten Chefs nicht genau wussten, dass sie seit Anfang 2008 Mitarbeiter, die oft fehlen, bei der IV melden und dort Hilfe erhalten können.
Jeder dritte Chef interpretierte zudem auffälliges Verhalten als «Charakterproblem» statt als Krankheit. Andere nahmen an, dass die Krankheit fortgeschrittener sein müsste, um «ein Fall für die IV» zu sein. Viele Chefs liessen die IV links liegen, weil sie diese laut Studie als zu «bürokratisch, distanziert, zu wenig praxisbezogen und unpersönlich» einschätzten.
Personalverantwortliche halten nicht viel von den IV-Fachpersonen
Wenn Chefs die Invalidenversicherung trotzdem einbeziehen, kommt dabei häufig nicht viel heraus. Nur jeder zweite Personalverantwortliche beurteilte die Beratung durch die IV im Nachhinein als «hilfreich» und bescheinigte der IV-Fachperson, das Problem gut erfasst zu haben.
Nur 12 Prozent der Berater erklärten den Chefs «detailliert» die Folgen der Erkrankung für die Arbeitsfähigkeit des Mitarbeiters oder gaben ihnen Tipps, wie sie besser mit diesen umgehen können.
Das Fazit der Studie: Die Arbeitgeber nehmen die IV «nur in 3 Prozent der Fälle als Problemlöser» wahr. Sie billigen der Versicherung nur eine geringe Kompetenz bei der Unterstützung im Umgang mit psychisch kranken Mitarbeitern zu.
Das ist problematisch, weil die geplante 6. IV-Revision vorsieht, dass die IV ab 2012 rund 17 000 Rentner zurück in reguläre Stellen bringen soll (saldo 19/09). Die meisten von diesen bekamen bisher wegen psychischer Störungen eine IV-Rente.
Mit anderen Worten: Die IV soll in Zukunft das schaffen, was ihr bisher kaum gelingt: die berufliche Wiedereingliederung psychisch belasteter Menschen. Scheitert die Behörde, werden viele heutige IV-Rentner bei der Fürsorge landen.
Behindertenverbände, Arbeitgeber und Experten fordern die IV auf, Konsequenzen aus der Studie zu ziehen. Roland Müller vom Arbeitgeberverband wünscht sich einen besseren Kontakt zwischen den kantonalen IV-Stellen und den Unternehmen:
«Die Studie zeigt, dass wir hier ein Bedürfnis nach Coaching haben.» Nicht zuletzt müsse die IV ihre Beratung verständlicher formulieren. Pro Mente Sana, die Interessenorganisation psychisch Kranker, verlangt mehr Angebote von IV und Arbeitgebern für psychisch belastete Mitarbeiter.
Studienautor Niklas Baer rät der IV, möglichst schnell Standardabläufe für spezifische psychische Krankheiten zu formulieren und umzusetzen: «Jeder IV-Berater muss wissen, was er einem Chef sagt, der fragt, wie er den Arbeitsplatz etwa für einen Depressiven anpasst.»
IV-Chef sieht das Problem vor allem bei den Arbeitgebern
Die Verantwortlichen der IV scheinen die Studie nicht ernst zu nehmen. Konkrete Konsequenzen ziehen sie keine. Laut IV-Chef Stefan Ritler seien die Ergebnisse vor allem regional aussagekräftig. Die IV-Stellen sollten sich zudem generell stärker bemühen, «schneller, einfacher und pragmatischer auf Arbeitgeber zuzugehen».
Ansonsten liest der IV-Chef aus der Studie in erster Linie eine Verpflichtung der Arbeitgeber heraus, «sich mehr ihrer Führungsverantwortung für die Mitarbeiter zu stellen» und die IV-Angebote stärker abzurufen.