Medikamente: Viel zu wenig unabhängige Studien
Pharmafirmen täuschen die Patienten mit manipulierten Studien über die Nutzen und Risiken ihrer Medikamente. Jetzt verlangen Fachleute mehr unabhängige Forschung.
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saldo 12/2010
20.06.2010
Letzte Aktualisierung:
22.06.2010
Eric Breitinger
Die Medikamentenforschung leidet an zwei Schwächen: Zum einen unterschlagen Pharmafirmen oft Ergebnisse, die ihnen nicht passen. Zum anderen pumpen Firmen nur Geld in klinische Tests von Mitteln, die ihnen satte Gewinne versprechen. Gleichzeitig knausern sie bei der Erforschung günstiger Alternativmethoden. Viele erfolgversprechende Therapieansätze bleiben daher unbeachtet.
Dabei ginge es auch anders. Das zeigt das Beispiel Italien. Seit 2005 verpflichtet dort ein Ge...
Die Medikamentenforschung leidet an zwei Schwächen: Zum einen unterschlagen Pharmafirmen oft Ergebnisse, die ihnen nicht passen. Zum anderen pumpen Firmen nur Geld in klinische Tests von Mitteln, die ihnen satte Gewinne versprechen. Gleichzeitig knausern sie bei der Erforschung günstiger Alternativmethoden. Viele erfolgversprechende Therapieansätze bleiben daher unbeachtet.
Dabei ginge es auch anders. Das zeigt das Beispiel Italien. Seit 2005 verpflichtet dort ein Gesetz alle im Land tätigen Pharmafirmen, 5 Prozent ihres Werbebudgets in einen Fonds für unabhängige Forschung zu zahlen. Der bei der italienischen Heilmittelagentur (Aifa) angesiedelte Fonds fördert nur nichtkommerzielle Studien und unabhängige Forscher, die sich verpflichten, alle Testresultate zu veröffentlichen.
«Der Fonds sollte vor allem patientenorientierte Forschung finanzieren»
Die Aifa finanzierte nach eigenen Angaben zwischen 2005 und 2007 151 Studien mit 78 Millionen Euro. Die meisten Tests galten häufig vernachlässigten Patientengruppen wie Kindern (36 Studien), älteren Menschen (73 Studien) sowie Schwangeren (6 Studien). 82 Studien prüften zudem Mittel gegen seltene Krankheiten.
Hinzu kamen Studien zur Medikamenteneinnahme. So prüften Forscher, ob ein Krebsmittel genauso hilft, aber mit weniger Nebenwirkungen, wenn man es kürzere Zeit als bisher einnimmt. Eine andere Untersuchung verglich die Wirksamkeit von Brustkrebspräparaten.
Ein ähnliches Fördermodell fordern nun Schweizer Patientenvertreter, Wissenschafter und Krankenkassen. Für Margrit Kessler vom SPO Patientenschutz könnte der Fonds «Wissensdefizite bei Medikamenten für Kinder und seltenen Krankheiten beseitigen helfen».
Professor Peter Jüni vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern glaubt, dass der Fonds eine grosse Lücke in der Arzneimittelforschung schliessen könnte: «Der Fonds sollte vor allem patientenorientierte Forschung mit klinischer Relevanz finanzieren.»
Dafür fühle sich niemand verantwortlich. Der Nationalfonds fördere Grundlagenforschung, die Industrie vor allem verwertbare Studien. Laut Felix Schneuwly vom Krankenkassenverband Santésuisse würde ein solcher Fonds die unabhängige Forschung stärken: «Davon hat die Schweiz zu wenig.» In der Tat finanzieren Pharmafirmen 80 Prozent aller klinischen Tests und verschweigen oder manipulieren nicht selten unliebsame Ergebnisse.
Beispiel Tamiflu: Der Basler Roche-Konzern machte mit dem Grippemittel wegen der Schweinegrippe-Hysterie im Jahr 2009 einen Umsatz von 3,2 Milliarden Franken. Zugleich beklagte das «British Medical Journal» (BMJ) im Dezember 2009 Roches Heimlichtuerei, wenn es um die Beweise für die Wirksamkeit von Tamiflu geht.
Laut BMJ hatten Forscher Ungereimtheiten in einer vielzitierten Roche-Studie zum Tamiflu-Wirkstoff Oseltamivir entdeckt: Der Nutzen wird in der Studie offenbar überbewertet, die Häufigkeit von Komplikationen aber als angeblich erstaunlich gering angegeben. Die von Roche bezahlte Studie fusste auf zehn von ihr selbst gesponserten Tests. Die Forscher baten Roche um die Testdaten. Roche weigerte sich, stellte nur eine Auswahl zur Verfügung. Erst später lenkte der Konzern ein.
Viele Studien verschwinden einfach im Archiv
Das ist kein Einzelfall: Das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) dokumentiert in einer neuen Studie über 60 Fälle, in denen Firmen und Forscher die Ausbreitung von Wissen behinderten und Patienten schädigten.
Laut IQWIG tricksen sie auf zwei Ebenen: Zum einen lassen sie ganze Studien im Archiv verschwinden. So liess die US-Arzneimittelbehörde FDA 90 Medikamente neu zu. Diese hatten die Hersteller zuvor in 900 klinischen Tests erprobt. Doch nur knapp die Hälfte der Studienergebnisse wurde veröffentlicht.
Zum anderen publizierten Forscher häufig frisierte Ergebnisse. Laut IQWIG zeigen Vergleiche ursprünglicher Testziele mit späteren Veröffentlichungen, dass «in 40 bis 60 Prozent» der Fälle unliebsame Ergebnisse unter den Tisch fielen oder die Forscher Auswertungskriterien geändert hatten. Das Verschweigen hat laut Beate Wieseler vom IQWIG zur Folge, dass «Ärzte und Patienten Therapien einsetzen, die in Wahrheit nutzlos oder sogar schädlich sind».
Pharmafirmen könnten sich die Fondseinlage problemlos leisten
Die Schweizer Arzneimittelbranche lehnt einen Fonds nach italienischem Vorbild ab. Interpharma, der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, unterstützt zwar laut Generalsekretär Thomas Cueni «die Schaffung von Anreizen für die Forschung bei seltenen Krankheiten und Patientengruppen». Zahlen sollen jedoch andere.
Cueni warnt davor, «die Pharmafirmen als Milchkühe» für zusätzliche Forschung zu sehen. Weitere Abgaben würden das Investitionsklima trüben und könnten zu höheren Preisen führen. Auch hält der Cheflobbyist seine Branche für zu klein, um «signifikante Summen» aufzubringen.
Diese Sorge ist unbegründet: Laut der Marktforschungsfirma IMS Health haben Pharmafirmen 2009 in der Schweiz Produkte für knapp 4,9 Milliarden Franken verkauft. Veranschlagt man die Werbeausgaben sehr zurückhaltend mit 15 Prozent vom Umsatz und erhielte der Fonds wie in Italien 5 Prozent davon, könnten pro Jahr 36 Millionen Franken für die unabhängige Medikamentenforschung verwendet werden.