Die Medien machen häufig kurzen Prozess
Küsnachter Schüler, Jörg Kachelmann, Carl Hirschmann, Hannibal Gaddafi – diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie belegen, wie Medien einseitig und unkritisch auf die Aussagen von Polizei und Staatsanwaltschaft setzen.
Inhalt
saldo 08/2010
25.04.2010
Letzte Aktualisierung:
27.04.2010
Rolf Hürzeler
Der Obdachlose Indy ist laut dem «Sonntagsblick» eines der drei Opfer der Zürcher Schüler, die letzten Sommer in München drei Männer wahllos angegriffen und zusammengeschlagen haben sollen. Wer im gleichen Artikel weiterliest stellt fest, dass Indy lediglich ein Zeuge der Attacke war. Alles offenbar nicht so wichtig –Hauptsache die Emotionen stimmen.
Zeuge Indy kommt, immer laut «Sonntagsblick», zum Schluss, dass die Attacke «...
Der Obdachlose Indy ist laut dem «Sonntagsblick» eines der drei Opfer der Zürcher Schüler, die letzten Sommer in München drei Männer wahllos angegriffen und zusammengeschlagen haben sollen. Wer im gleichen Artikel weiterliest stellt fest, dass Indy lediglich ein Zeuge der Attacke war. Alles offenbar nicht so wichtig –Hauptsache die Emotionen stimmen.
Zeuge Indy kommt, immer laut «Sonntagsblick», zum Schluss, dass die Attacke «versuchter Mord» war. Ganz im Sinn des Münchner Staatsanwalts Laurent Lafleur, der gesagt haben soll: «Man kann nur von Glück reden, dass dem Mann nicht das Genick gebrochen wurde und dass er nicht starb.»
So vertritt der «Sonntagsblick» den Standpunkt der Anklagebehörden, die im Strafverfahren Partei sind und eine Verurteilung der Angeklagten anstreben. Folgerichtig verzichtete das Blatt darauf, einen der Verteidiger der Jugendlichen zu kontaktieren. Deren Sicht der Vorfälle fehlt in diesem Artikel gänzlich – wie in vielen andern auch.
Küsnachter Schüler: Im Kollektiv als brutale Schläger abgestempelt
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Gewaltsame Übergriffe sind nicht tolerierbar. Die Polizei hat in solchen Fällen effizient einzugreifen, die Untersuchungsbehörde muss die Vorfälle untersuchen, und das Gericht hat ein ausgewogenes Urteil zu fällen. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt die Unschuldsvermutung – an die sich weite Teile der Presse allerdings nicht halten.
So übernimmt der «Tages-Anzeiger» im Internet kommentarlos die Darstellung der Polizei: «Die fünf Schüler aus Küsnacht traktierten den 46-Jährigen mit gezielten Schlägen ins Gesicht.» Tatsächlich erhob die Staatsanwaltschaft nur gegen drei der fünf Schüler Anklage. Die andern zwei liessen sich offenbar keine Übergriffe zuschulden kommen.
Die häufige Vorverurteilung von Angeschuldigten durch die Medien basiert auf der ungleichen Verteilung der Informationen und der Gedankenlosigkeit der Journalisten: Die Polizeikorps arbeiten heute mit professionellen Pressesprechern und die Staatsanwaltschaften veranstalten regelmässig Medienkonferenzen. Da gibt es häufig süffisante Details zu berichten – allerdings nur aus der Sicht einer Partei. Angeschuldigte wissen häufig nicht einmal davon, dass informiert wird – geschweige denn kennen sie die Beschuldigungen, die dort gegen sie erhoben werden.
Kein Wunder, führen mediale Einseitigkeiten zu grotesken Auswüchsen. So setzte die «Zürichsee Zeitung» auf Sippenhaftung und führte im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten Vorfällen in München weitere angebliche Zwischenfälle mit Schülern der Weiterbildungs- und Berufswahlschule Küsnacht WBK an. Sie zitiert einen anonymen 56-Jährigen, dem Schüler «schwule Sau» zugerufen haben sollen. Die Schlussfolgerung des Beschimpften in der «Zürichsee Zeitung»: «Die Schule muss geschlossen werden.»
Fall Gaddafi: Medien als Sprachrohr der Genfer Polizei
Nicht Fairness, sondern Prangerwirkung ist oft das Ziel medialer Berichterstattung. Ins gleiche Kapitel gehört die Publikation des Polizeifotos von Hannibal Gaddafi durch die «Tribune de Genève» vor neun Monaten. Ein Mitarbeiter der Behörden hat das Bild unter Verletzung des Amtsgeheimnisses an die Zeitung weitergereicht. Die Zeitung veröffentlichte das Bild – obwohl die Publikation von Polizeifotos von Angeschuldigten klar persönlichkeitsverletzend ist.
Ein Genfer Gericht hiess denn auch kürzlich eine Klage von Gaddafi gegen den Kanton Genf und die Zeitung gut. Das hinderte den «Blick» nicht daran, am nächsten Tag das Polizeibild gleich nochmals auf der Frontseite zu veröffentlichen. Den Konflikt zwischen Gaddafi und seinen Angestellten hatte der «Blick» übrigens ausschliesslich aus Sicht der Genfer Polizei erzählt. Den Vogel schoss das Blatt mit vier «Frisurvorschlägen» für Hannibal ab, indem der «Blick» das Polizeifoto unter anderem «mit einem Touch Miami Vice» bearbeitete.
Wie einseitig die Presse die Behördensicht verbreitet, erfährt gegenwärtig auch der Meteorologe Jörg Kachelmann. Er sitzt seit Ende März in Mannheim in Untersuchungshaft, weil er von einer deutschen Ex-Freundin beschuldigt wird, sie vergewaltigt zu haben. Was die Zeitungen nicht schreiben: In Untersuchungshaft befindet sich Kachelmann, weil er seinen Wohnsitz im Ausland hat. Dies führt bei solchen Beschuldigungen in der Regel immer zu Untersuchungshaft, weil die Untersuchungsbehörden von Fluchtgefahr ausgehen.
Die Informationen der Medien in diesem Fall stammen fast ausschliesslich von Polizei, Staatsanwaltschaft, der Anzeigeerstatterin und ihrer Mutter. So berichtete das angebliche Opfer im Internet-Dienst des Nachrichtenmagazins «Focus», Kachelmann habe es mit einem Messer zum Sex gezwungen. Und die Mutter der Frau sagte im «Blick»: «Meiner Tochter geht es gar nicht gut. Sie ist zusammengebrochen. Sie ist in der Klinik.» Auch Bildmaterial gab es frei Haus: Kachelmann wurde der Presse vorgeführt, wie er in einen Gefangenenwagen steigt.
Carl Hirschmann: Prügelknabe der Presse
Vorverurteilungen sind so programmiert. Selbst durch die «NZZ am Sonntag»: Das Blatt porträtiert den Meteorologen zwar fair bis zum Schluss des Artikels. Dann heisst es aber ohne jede Begründung: «Die Prognosen sind nicht gut.» Zum Prügelknaben der Presse brachte es in den letzten Wochen auch der Zürcher Klubbetreiber Carl Hirschmann, zuletzt deshalb, weil er Anfang April zwei Tage in Haft sass.
Trotz dieser kurzen Dauer prophezeite die Gratiszeitung «20 Minuten»: «Mehrere Jahre Gefängnis drohen.» Das Blatt beruft sich auf den angeblichen Strafrechtsexperten David Gibor, der zum Besten gibt: «Es ist nicht auszuschliessen, dass die Staatsanwaltschaft bei Hirschmann eine erhebliche Wiederholungsgefahr feststellt.» Anderer Ansicht war der Haftrichter, der Hirschmann umgehend freiliess.