Wenn am Abend die Strassenlampen angehen, wird es Hans Rufener schwindlig. «Ich kann nicht mehr durchs Haus gehen, sonst würde ich umfallen», sagt der 79-jährige Bauer aus Blumenstein BE. «Wir können keine Nacht mehr schlafen», ergänzt seine Frau Martha. Laut Rufeners ist die Gemeinde sowie das ihr unterstellte Elektrizitätswerk verantwortlich für die Misere. «Aber die Gemeinde lässt uns völlig im Stich.»
Vor zwanzig Jahren bauten Rufeners den Stall neben dem Haus um. Die Stromleitung zum Haus, die bisher überirdisch auf Stangen verlief, mussten sie jetzt im Boden verlegen. So verlangten es die Vorschriften. Kurz darauf bekam Hans Rufener Rückenschmerzen, die immer stärker wurden und schliesslich den ganzen Körper lähmten: «Es war unerträglich. Zudem hörte ich immer weniger.»
Auch den Kühen im neuen Stall ging es schlecht. Geschwollene Beine, aufgedunsener Kopf, Schaum vor dem Mund – und immer wieder Totgeburten. «Zeitweise hatten wir fast jede Woche den Tierarzt hier», erinnert sich Martha Rufener. Der Stall, gebaut für dreissig Rinder, steht heute leer. «Unsere Existenz ist zerstört», sagt Hans Rufener. Der Grund sind sogenannte Kriechströme. Sie entstehen, wenn elektrischer Strom nicht im dafür vorgesehenen Leiter zurückfliesst, sondern zum Beispiel über Wasserleitungen oder durch den Boden. Denn Strom sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes. Je nachdem, wie gut ein Material leitet, teilt er sich in verschiedene Teilströme auf. Sie werden auch vagabundierende Ströme genannt.
Verdacht: Falsch geerdete Stromleitung als Auslöser
Auslöser für Kriechströme kann eine falsche Erdung sein. Rufeners sind überzeugt, dass dies bei ihnen der Fall ist: «Das Elektrizitätswerk Blumenstein hat den Strom immer noch auf die Wasserleitung geerdet», sagt Martha Rufener. Zu diesem Schluss kam auch der Elektrobiologe, der als Erster die Kriechströme feststellte. Doch andere Fachleute bezweifeln dies. Zudem kreuzt eine neue Stromleitung im Boden zwei Wasserleitungen. «So übernimmt sie von dort die Kriechströme und bringt sie uns direkt ins Haus.»
Eindeutig beantworten könnte diese Fragen die Gemeinde Blumenstein. Doch gegenüber dem Gesundheitstipp nimmt die Gemeinde keine Stellung. Vor zwei Jahren sagte der damalige Gemeindepräsident dem «Thuner Tagblatt», verschiedene Experten hätten bestätigt, dass die Anschlüsse fachgerecht verlegt worden seien. Laut Josef Peter, diplomierter Elektriker und Elektrosmog-Spezialist, verursacht jeder Hausanschluss Kriechströme: «Das ist technisch gar nicht anders lösbar.» Nur flössen diese normalerweise tief unten im Erdreich, wo sie niemanden störten.
Rufeners Hof liegt allerdings auf sehr feuchtem Boden. Peter: «Dieser leitet an der Oberfläche so gut, dass die Ströme nicht in die Tiefe verschwinden.» In dem feuchten Gebiet verlaufen zudem Telefondrähte, Viehzäune und Drainage-Rohre. «Alle diese Leitungen nehmen die Kriechströme auf und leiten sie weiter», sagt Martha Rufener. Zahlreiche Fachleute haben in den letzten zwanzig Jahren bei Rufeners Kriechströme gemessen. Sie betragen bis zu 2,5 Ampère. Das Ehepaar begann sich zu wehren und erreichte von der Gemeinde, dass es provisorisch die Stromleitung wieder überirdisch zum Haus führen durfte. Zudem baute es eine galvanische Trennung ein (siehe unten). Die Beschwerden besserten sich ein wenig.
Aber vor gut zehn Jahren verlangte die Gemeinde, die Leitung müsse endgültig in den Boden. «Seither ist alles noch viel schlimmer», sagt Hans Rufener. Er habe unerträgliche Schmerzen von Kopf bis Fuss, und auch die Kühe wurden wieder krank. Nach fünf Jahren musste Rufeners Sohn, der den Hof übernommen hatte, aufgeben.
Gemeinde bestätigt «vagabundierende Ströme»
Bestätigt sehen sich Rufeners auch durch eine Mitteilung der Gemeinde. Letzten Winter musste die Gemeindeversammlung über einen Kredit abstimmen, um eine Wasserleitung zu ersetzen. Der Gemeinderat schlug vor, die gusseiserne Leitung durch ein Kunststoffrohr zu ersetzen. Der Grund: «Jüngere Beispiele zeigen, dass der Boden in Blumenstein mit seinen vagabundierenden Strömen für Gussleitungen zu aggressiv ist.» Auf die Frage, was die Quelle der Ströme sein könnte, gibt die Gemeinde dem Gesundheitstipp keine Antwort.
In ihrer Verzweiflung wandten sich Rufeners an das umweltmedizinische Beratungsnetz der Ärzte für Umweltschutz. Dort laufen derzeit weitere Abklärungen. «Wir möchten ja nur, dass das Elektrizitätswerk nicht mehr auf die Wasserleitung erdet», sagt Martha Rufener. Am besten sei es, wenn sich die Verantwortlichen zusammen mit einem Spezialisten für Elektrosmog mit ihnen an einen Tisch setzen, um eine Lösung zu finden. Der Gesundheitstipp schlug dies der Gemeinde vor. Doch auch hier: Kein Kommentar.
Kriechströme: Galvanische Trennung kann helfen
Kriechströme stellen eine un-nötige Belastung dar. Fachleute können sie meist eliminieren: Ein konzessionierter Elektriker mit Fachrichtung Elektrobiologie kann an den Leitungen, die ins Haus führen, eine galvanische Trennung vornehmen. Dabei trennt er zwei Stromkreise so, dass nur noch Strom durch die Leitung fliesst, nicht aber Kriechströme.
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