Arzneimittel-Studien: Die Testpersonen riskieren ihr Leben
Medikamententests an Menschen führen immer wieder zu gravierenden Gesundheitsschäden. Doch Behörden und Pharmaindustrie verschweigen die Zahl der Betroffenen.
Inhalt
saldo 13/2009
23.08.2009
Letzte Aktualisierung:
25.08.2009
Sabine Rindlisbacher
Sind Sie weiblich und mindestens 65 Jahre alt?», fragt das Universitätsspital Zürich in einem Inserat in der Gratiszeitung «20 Minuten» – und wirbt um Studienteilnehmer. Ein Jahr lang sollen ältere Frauen mit Verdacht auf Knochenschwund ein «in der Schweiz noch nicht zugelassenes Medikament» auf dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit testen. Die ärztlichen Untersuchungen sind laut dem Inserat für die Versuchspersonen «kos...
Sind Sie weiblich und mindestens 65 Jahre alt?», fragt das Universitätsspital Zürich in einem Inserat in der Gratiszeitung «20 Minuten» – und wirbt um Studienteilnehmer. Ein Jahr lang sollen ältere Frauen mit Verdacht auf Knochenschwund ein «in der Schweiz noch nicht zugelassenes Medikament» auf dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit testen. Die ärztlichen Untersuchungen sind laut dem Inserat für die Versuchspersonen «kostenlos». Wer die Studie in Auftrag gegeben hat, darf das Universitätsspital nicht sagen. «Bei Medikamentenversuchen sind die Spitäler und Ärzte oft an eine Geheimhaltungsklausel gebunden», sagt Sprecherin Viviane Gutzwiller.
Mehrere Ämter müssen Bewilligung erteilen
In der Schweiz gibt es laut Heilmittelinstitut Swissmedic jährlich zwischen 300 und 400 Studien mit Arzneimitteln, bei denen Versuchspersonen teilnehmen. Wer eine solche Studie durchführen will, braucht dazu die Bewilligung der Swissmedic und der kantonalen Ethikkommissionen. Letztere überprüfen und bewerten den klinischen Versuch nach wissenschaftlichen, medizinischen und ethischen Kriterien. Die Pharmaindustrie bezahlt gut vier von fünf Studien, sie profitiert von neuen Medikamenten am meisten.
Für Versuchspersonen kann eine Teilnahme an solchen Medikamententests böse enden: Denn jedes Jahr kommt es zu schwerwiegenden unerwarteten Ereignissen, bei denen die Studienleiter vermuten, dass sie auf das Prüfpräparat zurückzuführen sind. In der Fachsprache nennt man solche Ereignisse Susar. Das ist die englische Abkürzung für einen unerwarteten schweren Zwischenfall. Ein Ereignis gilt dann als schwerwiegend, wenn Studienteilnehmer sterben oder in Lebensgefahr geraten, stationäre Behandlung oder eine Verlängerung des Spitalaufenthalts benötigen. Oder wenn es zu schweren Behinderungen kommt, Invalidität oder Geburtsfehler auftreten.
Kommt es zu einem solchen Fall, besteht eine Meldepflicht. Die Pharmaindustrie muss Swissmedic informieren und die Studienleiter – meist Spitalärzte – müssen die kantonale Ethikkommission in Kenntnis setzen. saldo wollte wissen, wie häufig solche ernsten Vorfälle bei Medikamentenversuchen an Menschen sind. In einer ersten Auskunft sprach Swissmedic-Sprecher Joachim Gross von «höchstens hundert Susar-Meldungen» pro Jahr. saldo bat zusätzlich um die Anzahl der Meldungen der letzten acht Jahre und wollte wissen, wie viele Zwischenfälle auf die getesteten Medikamente zurückgeführt werden konnten. Swissmedic versprach, die vorhandenen Daten auszuwerten. Doch dann hiess es plötzlich: «Über die Susar-Meldungen wird nicht Buch geführt.»
Auch die Arbeitsgemeinschaft der Ethikkommissionen will keine Zahlen nennen. Einen Hinweis auf den Grund des Schweigens liefert ein vor zwei Jahren erschienener Bericht der «Schweizerischen Ärztezeitung». Eine Arbeitsgruppe «Koordination der Beurteilung klinischer Versuche» hielt darin fest, dass die kantonalen Ethikkommissionen mit Susar-Meldungen «überschwemmt» würden. Allein die Ethikkommission des Kantons Bern erhalte 7000 Meldungen pro Jahr. Die Kommissionen seien nicht in der Lage, diese Flut seriös zu bearbeiten.
Auch die Pharmaindustrie lässt sich nicht in die Bücher schauen. Sämtliche saldo-Anfragen wurden abgeblockt: Novartis wollte aufgrund «firmeninterner Richtlinien» keine Zahlen nennen. Bayer macht den «Persönlichkeitsschutz» der Versuchspersonen geltend. Pfizer-Sprecherin Susanne Thost befürchtet, dass «konkrete Zahlen ohne nähere Erläuterung die Gefahr einer falschen Interpretation bergen». Und für Roche wäre die Aufarbeitung «sehr aufwendig». Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz und Mitglied der Ethikkommission Zürich, ist überzeugt: «Swissmedic führt Buch, will aber keine Zahlen nennen, genau wie die Pharmaindustrie.»
Kessler rechnet mit mehr als hundert Susar-Meldungen pro Jahr. «Als Beraterin habe ich Fälle mit Studienteilnehmern erlebt, da standen mir die Haare zu Berg», sagt sie. Menschen zum Beispiel, die wegen eines Krebsmedikaments eine Notfallstation aufsuchen mussten oder aufgrund eines Impfstoffes schwere Gesichtslähmungen erlitten. Patienten, die Schaden erlitten haben, seien einfach abgeschoben worden. Seit Jahren kämpft Kessler für eine unabhängige Anlaufstelle für Studienteilnehmer. Sie kritisiert auch die Kontrollen während der Studien: «Sobald die Studien bewilligt sind, können Pharmakonzerne und Prüfärzte theoretisch machen, was sie wollen. Es kontrolliert sie niemand.»
Swissmedic gibt mangelnde Kontrolle zu
Swissmedic-Sprecher Gross gesteht ein: «Alle Behörden inklusive Swissmedic haben zu wenig personelle Ressourcen, um eine genügende Zahl von klinischen Versuchen während der Durchführung nach internationaler Richtlinie zu inspizieren.» Dabei wäre eine verschärfte Kontrolle dringend nötig. «Vor allem bei den von Ärzten initiierten Versuchen gibt es sehr viele Verstösse gegen die gesetzlichen Anforderungen», weiss Gross. Mit gravierenden Folgen: «Diese Verstösse beeinträchtigen den Schutz der Versuchspersonen.» Das gelte auch für Studien der Pharmaindustrie, sagt Gross.
Versuchspersonen: Hohes Risiko gegen einen Orangensaft
So riskant Medikamententests für die Teilnehmer sind, bei der Entschädigung geizen die Pharmafirmen. Versuchspersonen werden selten bezahlt. So erhalten Studienteilnehmer im Unispital Zürich im besten Fall eine «Wegentschädigung unter 50 Franken». Im Kantonsspital Aarau werden 2 von 100 Teilnehmern entschädigt – mit «Transportkosten, Orangensaft, Brötli und Gratisuntersuchungen». Obgleich Joachim Gross von Swissmedic einräumt: «Studien können im schlimmsten Fall tödlich enden.» «Eigentlich müssten alle Studienteilnehmer entschädigt werden», findet Etzel Gysling, Arzt und Mitglied der kantonalen Ethikkommission Sankt Gallen. In den meisten Fällen hätten die Versuchspersonen keinen Nutzen von ihrer Teilnahme. Gysling: «Studien dienen in erster Linie den Interessen der Industrie und erst in zweiter Linie den Interessen der Kranken.»
Neue Arzneien
Von der Entwicklung bis zur Zulassung einer neuen Substanz dauert es etwa zehn bis fünfzehn Jahre. Von zehn Substanzen, die klinisch geprüft werden, schafft es nur eine als Medikament auf den Markt.
- Phase 0: Die Wirkung des neuen Arzneimittels ist noch unbekannt. Tests am Computer, an Zellkulturen sowie an Versuchstieren.
- Phase 1: Die Substanz wird erstmals am Menschen angewendet. Überprüfung von Verträglichkeit und Sicherheit. Meist nehmen nur gesunde Personen teil. In der Krebsmedizin auch Kranke, denen sonst nichts hilft. Im Schnitt 20 bis 80 Versuchspersonen.
- Phase 2: Die Substanz wird erstmals zwischen 100 und 500 kranken Personen verabreicht. Man prüft dabei die Wirksamkeit und die Vertretbarkeit von Nebenwirkungen. Das dient zur Bestimmung der richtigen Dosierung. Das Produkt kommt mit einer Wahrscheinlichkeit von 8 bis 15 Prozent auf den Markt.
- Phase 3: Marktzulassung. Ein signifikanter Wirkungsnachweis muss in Studien aufgezeigt werden. Fast immer erhält dabei zum Vergleich ein Teil der Studienteilnehmer ein Placebo-Präparat. 300 bis 10'000 Versuchspersonen.