Pharmakonzerne halten unliebsame Daten zurück
Der Pharmamulti Pfizer veröffentlichte Daten über das Medikament Neurontin nicht, die gegen seine Wirkung sprachen. Doch die Schweizer Heilmittelbehörde verschliesst die Augen.
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saldo 09/2009
10.05.2009
Letzte Aktualisierung:
12.05.2009
Andreas Grote
Neurontin ist ein bewährtes Medikament für Epilepsie-Patienten: Es kann sie vor Anfällen schützen, wenn sie nur von einem begrenzten Teil des Gehirns ausgehen. Dafür ist das Medikament unbestritten geeignet. Die Heilmittelbehörde Swissmedic hat das Medikament aber nicht nur gegen Epilepsie zugelassen, sondern auch gegen Nervenschmerzen bei Diabetes. Sie hat sich dabei auf Studien des Herstellers Pfizer verlassen, die eine Wirkung belegen.
Doch im verga...
Neurontin ist ein bewährtes Medikament für Epilepsie-Patienten: Es kann sie vor Anfällen schützen, wenn sie nur von einem begrenzten Teil des Gehirns ausgehen. Dafür ist das Medikament unbestritten geeignet. Die Heilmittelbehörde Swissmedic hat das Medikament aber nicht nur gegen Epilepsie zugelassen, sondern auch gegen Nervenschmerzen bei Diabetes. Sie hat sich dabei auf Studien des Herstellers Pfizer verlassen, die eine Wirkung belegen.
Doch im vergangenen Herbst kam erstmals ans Licht: Die Resultate der Studien beruhen auf unvollständigen Daten. Fachzeitschriften wie das deutsche «Arznei-Telegramm» berichteten darüber, aber auch grosse Zeitungen wie die «New York Times». Amerikanische Wissenschafter hatten im Lauf eines Gerichtsverfahrens tausende von Firmendokumenten auswerten können, die den Verdacht erhärteten.
Geringer Nutzen bei Nervenschmerzen von Fachleuten bestätigt
Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA verweigerte deshalb die Zulassung des Medikamentes gegen Nervenschmerzen. Nicht so in der Schweiz: Neurontin und vier Generika unter dem Namen Gabapentin sind weiterhin zum Behandeln der Diabetes-Beschwerden zugelassen. Swissmedic macht auf ahnungslos. Ihr Sprecher Joachim Gross: «Uns ist keine Diskussion um angeblich veränderte Studiendaten bekannt.» Beim Zulassen eines Medikamentes prüfe man vorliegende Studien genau.
Der Fall geht bis ins Jahr 1999 zurück: Eine Schwesterfirma von Pfizer liess an 325 Patienten testen, ob das Medikament auch gegen Nervenschmerzen wirkt, die typischerweise nach jahrelangem Diabetes auftreten. Die Studie zeigt aber, dass der Wirkstoff hier nicht besser wirkte als ein Scheinmedikament. Doch Pfizer wollte die schlechten Studienergebnisse nicht veröffentlichen. Stattdessen geht aus der Studie hervor, dass Neurontin gegen die Nervenschmerzen tatsächlich wirke, wie das «Arznei-Telegramm» analysierte. Das Resultat wurde in weiteren Studien aufgenommen und in Fachzeitschriften verbreitet.
Pfizer will zu den Vorwürfen der US-Experten gegenüber saldo keine Stellung nehmen. Die Unternehmenspolitik verlange aber, dass sie über Studienergebnisse «in jedem Fall objektiv, genau, ausgewogen und vollständig» berichte. Fachleute bestätigen, dass der Wirkstoff Gabapentin bei Nervenschmerzen wenig hilft. Max Wiederkehr, Präsident der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft: «Bei diabetischen Nervenschmerzen ist der Effekt von Gabapentin erfahrungsgemäss leider bescheiden.» Auch der Neurologe Christian Hess vom Berner Inselspital sagt: «Es gibt relativ viele Therapieversager.» Zudem können viele Patienten das Medikament wegen Nebenwirkungen nicht in der gewünschten Dosis nehmen. Dennoch empfehlen Fachgesellschaften das Medikament bei Nervenschmerzen – aufgrund der vorhandenen Firmenstudien.
Auch andere Pharmafirmen unterschlagen Studiendaten
Neurontin ist kein Einzelfall: Erst vor wenigen Jahren empfahl der Pharmahersteller Glaxo Smith Kline Ärzten den Wirkstoff Paroxetin für die Behandlung von Depressionen. Wenig später kam aus, dass das Medikament das Risiko für Suizid unter Jugendlichen erhöhte. Zudem hatte Glaxo Smith Kline Daten nicht veröffentlicht, die darauf hinweisen, dass das Mittel wenig nützt. Vor fünf Jahren gab es deswegen in den USA ein Gerichtsverfahren. Seither veröffentlicht Glaxo Smith Kline sämtliche klinischen Studien im Internet.
Auch die Pharmafirma Merck veröffentlichte Daten nicht, die darauf hinweisen, dass ihr Rheumamittel Vioxx das Herz-infarktrisiko erhöht. Die Firma musste in der Folge das Medikament vom Markt nehmen. Für viele Fachleute steht fest: Studiendaten sind oftmals manipuliert. «Viel häufiger, als wir annehmen», klagt Wolfgang Becker-Brüser, Arzt, Apotheker und Herausgeber des «Arznei-Telegramm». Firmen würden Daten fälschen, erfinden oder einfach unter Verschluss halten.
Veränderte Studiendaten bezwecken nicht nur, dass Behörden ein Medikament zulassen. Oft geht es auch um sogenannte Off-Label-Anwendungen. Dabei dürfen Ärzte ein bereits zugelassenes Medikament auch für andere Krankheiten einsetzen, wenn sie die Verantwortung dafür tragen. Pfizer hatte dies mit Neurontin versucht: In den USA hatten Studien suggeriert, dass das Medikament auch gegen Migräne und andere Nervenschmerzen helfe. US-Patientenorganisationen ging das zu weit. Sie klagten Pfizer ein. 2004 zahlte die Firma 430 Millionen Dollar, damit das Gericht das Verfahren einstellen liess.
Nützt ein Medikament, ist das auch im Interesse von Ärzten
Auch Ärzte sind der Pharmaindustrie nicht immer hilflos ausgeliefert. Beispiel Avastin: Das gegen Dickdarmkrebs zugelassene Medikament hilft auch bei der altersbedingten Augenerkrankung Makuladegeneration. Es wirkt sogar gleich gut wie die speziell dafür entwickelten Medikamente Macugen von Roche und Lucentis von Novartis. Mit einem kleinen Unterschied: Avastin ist rund 50-mal billiger. Ärzte haben deshalb unabhängige Studien dazu durchgeführt und publiziert. Avastin gilt seitdem als nahezu gleichwertige Alternative.
Im Fall von Neurontin ist zurzeit alles offen, wie Swissmedic-Sprecher Joachim Gross erklärt: «Falls sich herausstellt, dass die Daten falsch sind, wird eine Zulassung des Präparates hinfällig.»