Die Invalidenversicherung (IV) schreibt seit Jahren rote Zahlen. Genauer: Im Jahr 1990 verzeichnete sie noch einen Einnahmenüberschuss von 279 Millionen Franken. Zehn Jahre später überstiegen die Ausgaben die Erträge schon um 820 Millionen Franken. Inzwischen haben sich die Verluste auf rund 13 Milliarden Franken summiert. Immerhin: Im vergangenen Jahr hat die letzte Gesetzesrevision den Trend gewendet: Im Jahr 2008 betrug das Defizit der IV noch 1,3 Milliarden Franken. Die tiefroten Zahlen der IV sind dem Bundesrat ein Dorn im Auge. Auf der Suche nach Geld ist er bei den Konsumenten gelandet. Er will die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent erhöhen. Im Mai hätte das Volk über diese Vorlage abstimmen sollen.
Bundesrat will Geld bei Wenigverdienern holen
Kürzlich entschied der Bundesrat, die Abstimmung zu verschieben. Aus Angst, die Bevölkerung könnte die Steuererhöhung wegen der misslichen Wirtschaftslage ablehnen. Tatsächlich: Wer jährlich die Landwirtschaft mit 4 Milliarden Franken unterstützt und übers Wochenende 64 Milliarden Franken zur Unterstützung der UBS auftreiben kann, klingt nicht überzeugend, wenn er das fehlende Geld für die Invalidenrenten bei den Einkommensschwächsten holen will. Denn die Mehrwertsteuer trifft vor allem diejenigen Schichten, die das gesamte Einkommen für den Lebensbedarf ausgeben (siehe unten). Hauptgrund für die finanzielle Schieflage der IV ist ein ungebremster Anstieg der Anzahl Rentner: Er betrug in den vergangenen 15 Jahren rund 50 Prozent. Alard Du Bois-Reymond, IV-Chef im Bundesamt für Sozialversicherung (BSV): «Die Ausgaben für Renten machen mit über 6,5 Milliarden Franken heute über zwei Drittel der Kosten der IV aus.»
Unfallversicherungen profitieren von der IV
Du Bois-Reymond konstatiert aber auch hier eine Trendwende: Die im vergangenen Jahr mit der 5. IV-Revision gemachten Erfahrungen seien positiv. «Die Anzahl neuer Renten reduzierte sich im Vergleich zum Höchststand im Jahr 2003 schon um fast 40 Prozent», so der IV-Chef. Er rechnet damit, dass die 5. IV-Revision langfristig etwa 0,5 Milliarden Franken im Jahr einspart. Das bedeutet immerhin: Das jährliche Defizit sinkt auf rund eine Milliarde Franken. Diesen Verlust könnte man mit einer Gesetzesänderung weitgehend zum Verschwinden bringen. Was viele nicht wissen: Die Unfallversicherungen profitieren in hohem Mass von der IV. Hat ein Unfallopfer Anspruch auf eine Rente der obligatorischen Unfallversicherung (UVG), zahlt bei IV-Versicherten nämlich zuerst die IV – und die Unfallversicherungen nur noch die Differenz zwischen der IV-Rente und 90 Prozent des früheren Lohns. Dasselbe gilt für Rentner, die an Berufskrankheiten leiden.
Kein Wunder, geht es den Unfallversicherungen blendend: Die Suva versichert gut die Hälfte der Berufstätigen – und zwar äusserst erfolgreich. Zum dritten Mal in Folge schloss die Jahresrechnung 2007 mit einem sehr erfreulichen Resultat ab. Die Suva erwirtschaftete einen Gewinn von 355 Millionen Franken. Wer so erfolgreich geschäftet, kann auch einiges auf die hohe Kante legen. Per 31. Dezember 2007 weist die Suva Rückstellungen von über 30 Milliarden Franken aus. Das sind Reserven für unerledigte Unfälle, Rentendeckungskapitalien, Teuerungszulagen sowie «Risiken aus Kapitalanlagen». Dank diesem Polster konnte es sich die Suva im vergangenen Jahr leisten, vier Milliarden Franken mit Finanzgeschäften zu verlieren. Unter anderem mit dem Kauf von strukturierten Produkten der US-Pleitebank Lehman Brothers – einem Fehler, der vor allem unerfahrenen Anlegern zum Verhängnis wurde (siehe saldo 3/09).
Wie gut es finanziell um die Suva bestellt ist, zeigt der Einnahmen-Ausgaben-Vergleich: 2007 betrugen die Prämieneinnahmen 4,4 Milliarden. Die Aufwendungen für Renten, Kapitalleistungen, Taggelder und Pflegeleistungen machten aber lediglich 3,7 Milliarden aus. Ein Blick auf die Gesamtrechnung sämtlicher Unfallversicherer – also der Suva plus der privaten Gesellschaften wie Axa Winterthur oder Zürich – in den letzten zwanzig Jahren macht deutlich, wie lukrativ dieser Bereich insgesamt ist: 1990 nahmen die Unfallversicherer 1,1 Milliarden Franken mehr ein, als sie ausgaben. Im Jahr 2000 betrug die Differenz schon 1,4 Milliarden, 2005 dann 1,8 und 2006 2,2 Milliarden (siehe Grafik im pdf-Artikel).
Unfallversicherer halten Finanzzahlen zurück
Detailzahlen wollten auf Anfrage von saldo weder das Bundesamt für Gesundheit noch die privaten Versicherer bekanntgeben. Dies, obwohl die Unfallversicherung für Berufstätige obligatorisch ist. Mit Investitionen in risikoreiche Papiere Milliardenverluste zu erwirtschaften, macht für die Unfallversicherungen genauso wenig Sinn, wie übermässige Reserven zu horten. Vor allem dann nicht, solange die IV dunkelrote Zahlen schreibt. Gescheiter wäre es, wenn die Unfallversicherer künftig sämtliche versicherten unfallbedingten Rentenbezüger finanzieren würden – was eigentlich präzis ihrer Aufgabe entspricht.
Das sähe dann so aus: 253 321 Menschen erhielten im Januar 2007 eine IV-Rente, 23 937 aufgrund eines Unfalls. Die Unfallopfer entsprechen also etwa 10 Prozent aller IV-Rentenfälle. Der grösste Teil dieser Unfallrentner war auch UVG-versichert. Berücksichtigt man, dass im Jahr 2006 IV-Renten im Betrag von 6 Milliarden Franken ausbezahlt worden sind, und geht man davon aus, dass rund 10 Prozent auf UVG-Unfälle und Berufskrankheiten fallen, könnten so bei der IV wohl rund 500 Millionen Franken eingespart werden, wenn die IV diese Unfallrenten nicht auch noch übernehmen müsste. Neben den Renten belasten aber noch andere Ausgaben die IV-Rechnung: 5,5 Milliarden Franken schlagen für individuelle Massnahmen, Beiträge an Institutionen und Taggelder zu Buche. Wenn man auch hier von einem Anteil der Unfallopfer ausgeht, könnte die IV hier noch zusätzlich sparen.
Suva stellt höhere Prämien in Aussicht
Christine Goll, Mitglied der Gesundheitskommission des Nationalrates, beurteilt diesen Vorschlag auf Anfrage als «prüfenswert». Die Koordination der Sozialversicherungen sei «ein vorrangiges Problem». Alard Du Bois-Reymond vom Bundesamt für Sozialversicherungen ist der Ansicht, dass mit diesem Vorschlag die Probleme nur von der Invalidenversicherung an die Unfallversicherung verschoben würden. Du Bois-Reymond kann nicht beurteilen, ob diese Ausgaben von den Unfallversicherern zusätzlich übernommen werden könnten. Suva-Sprecher Erich Wiederkehr weist darauf hin, dass die Suva aufgrund der hohen Gewinne der letzten Jahre die Prämien sowohl 2008 wie 2009 gesenkt habe. Falls die Unfalversicherer zusätzliche Aufgaben übernehmen müssten, würde sich das allenfalls auf die Prämien auswirken.
Mehrwertsteuer: Eine Belastung für Wenigverdienende
Mit 19,7 Milliarden Franken ist die Mehrwertsteuer die wichtigste Einnahmequelle des Bundes (Totaleinnahmen 2008: 63,9 Milliarden). Sie ist relativ unsozial, denn sie wird nicht aufgrund der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erhoben, sondern aufgrund des Konsumverhaltens: Jeder Warenkauf, jede Dienstleistung, die in Anspruch genommen wird, wird mit der Mehrwertsteuer belastet. Sie kennt keine Progression und belastet alle Menschen gleich – ob arm oder reich. Haushalte mit weniger Einkommen sind durch die Mehrwertsteuer stärker betroffen als reiche Haushalte. Wer viel verdient und nicht das ganze Einkommen für den Lebensbedarf ausgeben muss, ist privilegiert. Die befristete Erhöhung um 0,4 Prozente zur Finanzierung der IV würde genau die Menschen treffen, die jetzt schon an den stagnierenden Löhnen und den explodierenden Krankenkassenprämien leiden. Und: Die Mehrwertsteuer soll jetzt zum dritten Mal seit ihrer Einführung 1995 erhöht werden. Im Gegensatz dazu werden die Einkommenssteuern laufend gesenkt. Davon profitieren vorab Gutverdiener.