Die Invalidenversicherung muss in den nächsten Jahren die Renten von 17 000 Schmerzpatienten überprüfen und möglichst viele streichen. Dies beschloss eine Mehrheit von Parlamentariern bei der sechsten IV-Revision (saldo 19/09). Sie stützten sich auf ein Urteil des Bundesgerichts vom März 2004. Die Bundesrichter befanden, dass Betroffene mit organisch nicht nachweisbaren Beschwerden wie chronischen Schmerzen diese «mit gutem Willen» überwinden könnten. Solche ­Leiden reichten nicht aus, um eine IV-Rente zu erhalten. Ein neues Rechtsgutachten kritisiert dieses Urteil und die neue IV-Praxis als diskriminierend: Der ehemalige Berner Professor und Ex-Bundesrichter Jörg Paul Müller hält darin fest, dass es keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege für die Annahme gebe, dass Patienten ihr Leiden willentlich überwinden könnten. Die gegenwärtige Rechtslage verletze daher das Diskriminierungsverbot von Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Gestützt auf das Gutachten klagt ein Zürcher Anwalt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gegen die Aufhebung der IV-Rente einer betroffenen Frau.