Invalidenversicherung: Zu wenig Unterstützung für Behinderte
Die Invalidenversicherung spart bei den Renten und behauptet, dank Fördermassnahmen im letzten Jahr über 11 000 Behinderte in den Arbeitsmarkt eingegliedert zu haben. Kritiker halten die Zahl für stark übertrieben.
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saldo 09/2012
09.05.2012
Eric Breitinger
Anlässlich einer Medienkonferenz präsentierten Vertreter der Invalidenversicherung (IV) Ende Februar stolze Zahlen. Sie sollen belegen, dass die IV mit ihrer Politik «Eingliederung vor Rente» Erfolg hat. Die IV bewilligte 2011 nur noch 15 400 neue Renten, 2002 waren es noch 27 000. Zugleich kürzte sie 2010 rund 2000 Renten und strich 3600 ganz. So weit die genauen statistischen Angaben der IV.
Vieles andere bleibt unklar. Etwa, wie viel Geld die IV mit di...
Anlässlich einer Medienkonferenz präsentierten Vertreter der Invalidenversicherung (IV) Ende Februar stolze Zahlen. Sie sollen belegen, dass die IV mit ihrer Politik «Eingliederung vor Rente» Erfolg hat. Die IV bewilligte 2011 nur noch 15 400 neue Renten, 2002 waren es noch 27 000. Zugleich kürzte sie 2010 rund 2000 Renten und strich 3600 ganz. So weit die genauen statistischen Angaben der IV.
Vieles andere bleibt unklar. Etwa, wie viel Geld die IV mit diesen verweigerten oder gekürzten Renten gespart hat. Die IV macht hier auf Anfrage bis zum Redaktionsschluss keine konkreten Angaben.
Auch die Zahl der effektiven wieder in den Arbeitsmarkt eingegliederten Ex-IV-Rentner bleibt offen. Jean-Phillipe Ruegger, Präsident der IV-Stellen-Konferenz, behauptet zwar, dass die IV insgesamt 11 530 «behinderte Personen» an Unternehmen vermittelt habe, 5400 davon in neue Jobs.
Für den Integrationsexperten Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland sagen «diese auf den ersten Blick erfreulichen Zahlen» nicht viel aus. Bei der Mehrheit der Eingegliederten handle es sich wahrscheinlich nicht um Ex-Rentner, sondern um Leute, welche die IV möglichst früh erfasste, um ihre Jobs zu retten. Diese Angestellten waren mindestens 30 Tage arbeitsunfähig. Die IV verhalf den meisten von ihnen wohl auch zu keiner neuen Stelle. Vielmehr blieb die Mehrheit nach der zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Betrieb.
Eingliederung: Detaillierte Informationen fehlen
Welchen Anteil die IV am Ergebnis hatte, wie viele IV-Bezüger und Antragsteller dank der neuen Förderung tatsächlich neue Jobs fanden, kann die Sprecherin der IV-Stellen Simone Bischof nicht sagen. Detaillierte Zahlen würden fehlen. Die IV verspricht Resultate von entsprechenden Forschungsprojekten für Herbst 2012.
Für Experte Baer ist auch unklar, wie nachhaltig die Integrationsaktivitäten der IV wirken: «Man muss klären, ob die Vermittelten nach zwei, drei Jahren ihre Stelle immer noch haben.» Die IV erwidert, dass die Erfassung solcher Daten nicht ihre gesetzliche Aufgabe sei. Seit Anfang Jahr erfasse die IV die Anstellungssituation von IV-Bezügern, deren Rente sie streiche oder kürze. Mit ersten Zahlen sei Ende des Jahres zu rechnen.
Bisherige Studien zeigen eher, dass es der IV schwerfällt, durch ihre Fördermassnahmen von Invalidität Bedrohte zu erreichen. Berner Forscher untersuchen zurzeit, was vorübergehend arbeitsunfähigen Personen hilft, die bisherige Stelle zu sichern oder eine neue zu finden. Die Forscher befragten dazu 440 Betroffene drei Mal in drei Jahren. Jürg Guggisberg vom Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien sieht «Hinweise, dass die IV nach wie vor zu spät eingeschaltet wird, um Jobs retten zu können».
Dass die Versicherung von sich aus zu wenig tut, um Betroffenen zu helfen, zeigte bereits eine frühere Studie zu psychisch kranken Mitarbeitern (saldo 10/11). Befragte Arbeitgeber nahmen «nur in 3 Prozent der Fälle die IV als Problemlöser wahr».
Stefan Ritler, Vizedirektor des Bundesamtes für Sozialversicherungen, unterstrich die angeblich erfolgreiche Wiedereingliederung von Ex-Rentnern mit einer weiteren Zahl: Pro Jahr würden nur 300 IV-Bezüger, deren Rente aufgehoben wurde, neu bei der Sozialhilfe landen. Nur: Die IV erfasst längst nicht alle Betroffenen:
- Unberücksichtigt bleiben dabei Personen, die ihre Rente verloren haben, aber erst im übernächsten Jahr oder später zum Sozialamt gehen. Viele tun genau das. Denn wer Sozialhilfe beantragen will, muss zuerst sein Vermögen bis auf 4000 Franken aufbrauchen. Die IV-Statistik erfasst diese Ex-Rentner nicht.
- In die Statistik schaffen es auch nicht die gesundheitlich angeschlagenen Stellenlosen, deren Rentenantrag die IV abgelehnt hat, weil Gutachter ihnen Arbeitsfähigkeit bescheinigen. Experten kritisieren, dass es vor allem für psychisch Kranke zunehmend schwerer wird, eine neue Rente zu erhalten. Viele Abgelehnte bleiben daher in der Sozialhilfe oder rutschen nach dem negativen IV-Bescheid aus der Arbeitslosenversicherung direkt in die Sozialhilfe.
- Laut IV bezogen im Jahr 2009 rund 1900 Menschen neu Sozialhilfe, die im Vorjahr allein von IV-Renten lebten. Auf Sozialhilfe sind ohnehin viele IV-Rentner angewiesen: Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen brauchten im Lauf des Jahres 2009 rund 10 000 IV-Bezüger zusätzlich Sozialhilfe, um durchzukommen. Sie alle tauchen in der genannten Zahl nicht auf.
Statistiken: Fachleute verlangen genauere Zahlen
Experten kritisieren die präsentierten IV-Zahlen als ungenügend. Margrith Hanselmann, Geschäftsführerin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren, hält «die Zahlen für unvollständig» und den Beobachtungszeitraum für zu kurz: «Es ist daher unmöglich, eine statistisch erhärtete Aussage dazu zu machen, ob die strengere Rentenpraxis der IV zu mehr Sozialhilfebezügern führt.» Auch Niklas Baer kritisiert, dass «wir so nicht erfahren, wie viele IV-Rentner mittelfristig in der Sozialhilfe landen». Zudem bleibe unklar, was die einzelnen Integrationsmassnahmen der IV den Betroffenen nützen. Er fordert genauere und vollständigere Statistiken: «Nur so lässt sich herausfinden, welche Massnahmen die IV in Zukunft verstärkt einsetzen sollte.»