Bis zu 500 000 Menschen leiden in der Schweiz an seltenen Krankheiten. Medikamente für sie gab es lange fast keine. Für die Hersteller waren Forschung und Verkauf der geringen Mengen nicht lukrativ. 2007 waren in der Schweiz nur sechs Spezialmedikamente gegen seltene Krankheiten zugelassen, zum Beispiel eines gegen die Stoffwechselkrankheit Mukopolysaccharidose. Heute sind es gemäss dem schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic 73 Arzneimittel. Die Krankenkassen vergüten die Kosten von 50 Präparaten.
Das hilft den Betroffenen. Der Haken: Viele Produkte sind extrem teuer. So kostet zum Beispiel eine Behandlung mit dem Medikament Soliris 480 000 Franken im Jahr. Sie kann Menschen das Leben retten, die an der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie leiden, einer Erkrankung der blutbildenden Stammzellen. In der Schweiz gibt es geschätzte 80 Betroffene.
Eine Therapie mit dem Mittel Aldurazyme für einen 70 Kilogramm schweren Erwachsenen ist bis zu 750 000 Franken teuer. Sie kommt für etwa 20 Personen mit Mukopolysaccharidose in Frage. Die Stoffwechselkrankheit führt zu lebensbedrohlichen Schäden an Organen, Haut und Skelett.
294 Millionen Franken im Jahr für teure Spezialmedikamente
Teuer sind vor allem auch neue Präparate gegen seltene Krebsformen. Laut einer Studie der Helsana kostet eine Behandlung mit dem Mittel MabThera jährlich 14 000 Franken pro Person. Das Roche-Produkt soll bei seltenen Formen von Lymphdrüsenkrebs helfen. In der Schweiz erhielten es 2012 rund 3000 Patienten. Eine Therapie mit Glivec schlägt pro Jahr mit 39 000 Franken zu Buche. Ärzte geben das Produkt von Novartis auch Patienten, die an seltenen Arten von Leukämie leiden. Die Helsana rechnet mit tausend behandelten Personen.
Die neuen, exklusiven Medikamente belasten die Prämienzahler. Die Krankenkassen gaben laut Branchenverband Santésuisse im Jahr 2012 allein 294 Millionen Franken für solche Arzneimittel aus. Die Kosten stiegen in einem einzigen Jahr um 16 Prozent. Sie machten 5 Prozent der Ausgaben für Medikamente in der Grundversicherung aus.
Hersteller haben über Jahre hinweg das Monopol
Die Hersteller begründen die horrenden Preise mit hohen Entwicklungskosten und winzigen Patientenzahlen. Doch das ist Schönfärberei. Laut der britischen Marktforschungsfirma Evaluate Pharma kostet die Entwicklung von solchen Präparaten im Durchschnitt nur halb so viel wie die Entwicklung anderer Medikamente.
Die Hersteller von Medikamenten gegen seltene Krankheiten geniessen in der Schweiz, der EU und den USA gesetzlich verankerte Vorteile. Die Gesetzgeber wollten so die Entwicklung und Markteinführung der Präparate fördern. Swissmedic und das Bundesamt für Gesundheit bearbeiten die Zulassungsanträge schneller und erlassen den Firmen ihre Gebühren. Die Behörden verlangen von ihnen auch weniger Nachweise zur Sicherheit und Nützlichkeit als bei anderen Heilmitteln. Es reicht daher, wenn die Firmen neue Medikamente gegen seltene Krankheiten an ein paar Dutzend Personen testen. Sie haben in der Regel auch keine Mühe, Probanden zu rekrutieren: Viele Betroffene organisieren sich in Patientengruppen oder lassen sich vom gleichen Spezialisten behandeln.
Die Hersteller kommen auch bei Werbung und Vertrieb günstig weg. Denn sie haben ein Monopol auf Zeit: Die US-Behörden lassen sieben Jahre lang kein ähnliches Arzneimittel zu, wenn es nicht nachweislich besser ist. In der EU gilt der Konkurrenzschutz für acht Jahre. Die Schweiz hat keine vergleichbare Regelung.
Das alles macht die Präparate zum guten Geschäft: Laut Evaluate Pharma bringen sie den Herstellern im Schnitt 170 Prozent mehr Gewinn als andere Medikamente. Nutzniesser sind vor allem Grosskonzerne wie Novartis, Roche, GlaxoSmithKline oder Pfizer, die über 80 Prozent der in Europa zugelassenen Mittel gegen seltene Krankheiten vertreiben.
«Bei seltenen Krankheiten nichts in Forschung investiert»
Selbst Experten für seltene Krankheiten kritisieren die Abzockerpreise. Matthias Baumgartner, Professor für Stoffwechselkrankheiten am Kinderspital Zürich: «Viele Hersteller schlagen bei den Preisen über die Stränge.» Gabor Matyas von der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten in Zürich ärgert, dass die Industrie Milliardenprofite aus wenigen Medikamenten zieht, «aber bei den meisten seltenen Krankheiten nichts in die Forschung investiert».
Markus Fritz, Leiter der Schweizerischen Medikamenten-Informationsstelle, kritisiert das Bundesamt für Gesundheit. Das Amt segne aus Furcht vor schlechter Presse die «Monopolpreise» der Hersteller ab und belaste so die Prämienzahler. Für Fritz ist klar: «Das jetzige Preisfestsetzungssystem wird den Medikamenten gegen seltene Krankheiten nicht gerecht, was die Hersteller hemmungslos ausnützen.» Das Bundesamt für Gesundheit stützt sich bei der Preisfestsetzung «vor allem auf den Vergleich mit dem Ausland. Die Preise solcher Medikamente in der Schweiz entsprechen somit meist denjenigen der Referenzländer.»
Seltene Krankheiten: Viele Betroffene leiden an chronischen Schmerzen
Sie heissen Morbus Gaucher oder Morbus Pompe, Non-Hodgkin-Lymphom oder Muskeldystrophie Duchenne. Laut Gabor Matyas von der Zürcher Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten sind über 5000 seltene Krankheiten bekannt. Eine Krankheit gilt als selten, wenn weniger als einer von 2000 Menschen an ihr leidet. Das heisst, dass in Luzern oder St. Gallen mit je rund 75 000 Einwohnern weniger als 40 Menschen diese Krankheit haben.
Ärzte erkennen viele seltene Krankheiten bereits bei Neugeborenen oder Babys. 80 Prozent der Leiden sind genetisch bedingt. 20 Prozent sind eine Folge von Infektionen, Autoimmunkrankheiten oder Krebs. Viele Betroffene leiden chronisch an Beschwerden, werden invalid oder sterben jung an der Krankheit.